Fast niemand begegnet Luca auf dem Weg zur Schule. Ein paar Menschen warten vor der Tierarztpraxis an ihren Autos, sonst ist es ruhig auf dem Schulweg. Der Lehrerparkplatz vor der Schule ist inzwischen voller, mit den Q2-Schülern sind einige Lehrer auch wieder in den Präsenzunterricht zurückgekehrt. Obwohl das Leibniz mehrere Wochen seine Türen schließen musste, war das Gebäude nie ganz leer. Neben Schulleiter Martin Tenhaven waren auch immer Mitglieder des Kollegiums da, die die Notbetreuung einiger Schüler aus der fünften Klasse übernommen haben: „Den Kolleginnen und Kollegen gilt mein herzlicher Dank“, sagt er.
Als Luca auf den Schulhof einbiegt, sieht er zwei Schülerinnen: Ein ungewohntes Bild, zwischen ihnen liegt der geforderte Sicherheitsabstand – auch wenn es schwer fällt, „gerade wenn man Freunde wiedersieht“, verrät die 17-jährige Lotte. Sie und Luca sind in der Q2, machen in den nächsten Wochen ihr Abitur. Sie waren die ersten, die nach der Zwangspause zurückkehren durften. Beide kennen niemanden, der infiziert oder sogar erkrankt ist. Corona bestimmt zwar gerade einen großen Teil ihres Alltags, die Gefahr scheint aber eher weit weg zu sein.
Die Türen zum Hauptgebäude müssen aufgezogen werden, im Gebäude stehen alle Klassenraumtüren auf. Für die Q2 gibt es noch keine Einbahnstraßen auf den Fluren und im Treppenhaus (Achtung: mittlerweile schon!), aber alle sind aufgefordert, sich nur in den Klassenzimmern aufzuhalten. Es ist ungewöhnlich ruhig im Gebäude, die Schritte hallen in den leeren Gängen. Die Lehrer sind angewiesen, die Räume vorher aufzuschließen, um Staus auf den Gängen zu vermeiden. In den Klassenzimmern stehen die Tische weit auseinander, Hausmeister und Schulleitung haben mit Zollstock nachgemessen: „1,5 Meter stehen sie mindestens auseinander“, berichtet der stellvertretende Schulleiter Thomas Florinas. Normalerweise wird der Abstand zwischen den Tischen nur für die Abiturprüfungen gemessen, aber normal ist in der Pandemie nichts mehr.
Schulleiter Martin Tenhaven begrüßt seine Schüler des Mathe-LK mit einem Strahlen im Gesicht. „Es ist schön, dass die ersten Schülerinnen und Schüler wieder zurückkommen dürfen“, freut er sich. „Obwohl sich der Kurs mehrfach in Videokonferenzen zusammengeschaltet hat, kann das nicht den analogen Unterricht ersetzen.“ Vor dem analogen Unterricht machen die meisten einen Zwischenstopp am Waschbecken, um sich die Hände zu waschen. Wo der Wasserhahn fehlt, steht Desinfektionsmittel bereit. „Drückspender haben wir im Alleingang organisiert, das Desinfektionsmittel war eine Spende eines Vaters“, erzählt der stellvertretende Schulleiter. Händewaschen und Abstand halten sind die neuen Rituale am Leibniz.
Zu diesen neuen Regeln gehört auch, dass die Kurse aufgeteilt werden. Dass es in jedem Kurs eine strenge Sitzordnung gibt. Den Plan dazu müssen die Lehrkräfte nach dem Unterricht im Sekretariat abgeben. „Sollte Corona noch näher kommen, müssen wir Kontakte nachvollziehen können,“ erläutert der Schulleiter die neue Vorschrift.
Einige Lehrer*innen legen die Arbeitsblätter für ihre Schülerinnen und Schüler schon vor dem Unterricht auf die Schülertische, um den Sicherheitsabstand beim Austeilen nicht unterschreiten zu müssen. Der gilt auch für andere Materialien, wie der 17-jährige Luca berichtet: „Man muss alles selbst mitnehmen, was man braucht – z. B. Stifte und Papier. Leihen darf man sich von anderen nämlich nichts.“ Das gilt auch für Hausaufgaben, die jetzt schon allein aus hygienischen Gründen nicht abgeschrieben werden dürfen. Eine neue Erfahrung.
Zum Unterricht klingelt es nicht, aber es geht pünktlich los. Meistens werden Aufgaben und Fragen besprochen, die sich in der sechswöchigen Zwangspause ergeben haben. „Es ist so cool, wieder Kreide zwischen den Fingern zu haben“, freut sich Philosophie- und Deutschlehrerin Lea Hawranek. Die Schüler*innen sind auch froh. „Der Unterricht hat wieder eine gewisse Struktur und Normalität in die aktuelle Situation gebracht; auch der digitale Unterricht funktioniert gut“, erzählt Lotte.
Im analogen Unterricht knurrt links hinten ein Magen. Abhilfe ist nicht in Sicht – der Gang in den nahen Supermarkt ist untersagt, die Mensa noch geschlossen. „Wir überlegen im Moment, ob wir zumindest ein to-go-Angebot eröffnen können", erzählt der Schulleiter. „Noch steht dafür aber das Hygiene-Konzept nicht.“ (Achtung: mittlerweile steht das Konzept und die Mensa hat ein to-go-Angebot!) Daher verbringt der Kurs die Pause auch im gut gelüfteten Klassenzimmer. „Zieht euch warm an“, rät der Abiturient den Mitschülern, die in den nächsten Wochen kommen dürfen: „Die meisten Lehrer reißen die Fenster auf und machen Durchzug.“
Im Unterricht trägt niemand eine Maske, auf den Gängen und im Gebäude sind einige mit Stoffmasken unterwegs. Es gibt keine Mundschutzpflicht in Schulen, nur eine Empfehlung, eine Maske zu tragen. Auch wenn sie sich selbst nicht damit schützt, sei es ihr wichtig, andere vielleicht damit zu schützen, erklärt die Philosophielehrerin. Am Anfang sei es extrem komisch gewesen, sich selbst und auch die anderen mit Maske zu sehen. Aber mit der Zeit gewöhne man sich daran. Wobei: Es bleibe etwas stickig unter dem hellen Stoff mit den dezenten Flamingos, sprechen falle schwer. Keine Frage – ohne Maske wäre es angenehmer. „Trotzdem fände ich es gut, wenn jeder immer eine Maske aufhätte“, ergänzt sie.
Während die Q2 im Unterricht sitzt, rauchen nebenan in der erweiterten Schulleitungsrunde die Köpfe. Ein neues Konzept für das Lernen auf Distanz muss entwickelt werden, die Zusammenarbeit hinter den Kulissen strukturiert werden. Thomas Florinas erklärt: „Viele Lehrer sind auch jetzt hoch motiviert, überfordern aber ungewollt manche Schüler. Andere Lehrer tun sich mit den unzähligen digitalen Möglichkeiten schwer. Der Wildwuchs muss geregelt werden, ein einheitlicher Weg, den Eltern und Schüler für jedes Fach und jeden Lehrer einheitlich nutzen und vor allem auch verstehen. Es gibt Schüler, die berichten, dass sie derzeit für manches Nebenfach wie Kunst oder Musik dreimal mehr arbeiten, als für Deutsch oder Englisch.“ Rückfragen von Eltern müssten beantwortet werden.
Langfristige Planungen sind schwierig, auch weil die Vorgaben aus dem Schulministerium eher zaghaft eintreffen. „Anfangs haben wir stündlich das Mailpostfach des Schulmailverteilers geprüft. Mittlerweile hat sich alles neu eingespielt. Der Informationsfluss ist dank automatisierter Umleitungen der Mails besser gesteuert, aber es hat sich leider gezeigt, dass schulrelevante Informationen auf mehr, als nur dem offiziellen Schulmail-Weg verkündet werden", verrät der stellvertretende Schulleiter, der auch für die Stundenpläne zuständig ist. Martin Tenhaven ergänzt: „Wie in anderen Branchen auch läuft das allermeiste digital: Informationen werden im Chat oder Mail ausgetauscht, Konferenzen als Video-Meeting durchgeführt.“
Im Lehrerzimmer stehen ein paar Kolleginnen und Kollegen um einen Tisch herum. Sie tauschen sich aus über die neue Form des Unterrichtens, diskutieren über die neuen Vorgaben. Die meisten finden die Situation genauso schwierig wie ihre Schülerinnen und Schüler. Nicht alle sind mit allem einverstanden. Wie es weitergehen soll, wenn mehr Klassen zurückkommen, weiß noch niemand.
Für Lotte und Luca ist der Schultag vorerst vorbei. Sie wechseln den Arbeitsplatz, der heimische Schreibtisch wird nun wieder ihr Lebensmittelpunkt. Auf dem Weg nach Hause werfen die beiden einen Blick zurück auf das alte Gebäude, das schon mehrere Pandemien überstanden hat. Wie der Schulbetrieb damals lief, weiß niemand, der Blick in die Vergangenheit ist trübe. Genauso wie im Moment noch der Blick in die Zukunft. Aber der Nebel lichtet sich: „Nach und nach werden die Gebäude des Leibniz-Gymnasiums wieder mit Leben gefüllt“ – da ist sich Martin Tenhaven sicher und freut sich auf die Zeit, wenn es endlich wieder soweit ist.